Die Entstehung von dukkha
Die bekannteste und allgemein verständlichste Auslegung der zweiten Wahrheit findet man in den Originaltexten. Sie lautet:
Es ist dieser »Durst« (tanha), der neues Dasein erzeugt und mit leidenschaftlicher Gier verbunden ist, der hier und da sich neu ergötzt, nämlich:
1. Durst nach den Lüsten der Sinne
2. Durst nach Dasein und Werden
3. Durst nach Nicht-Dasein, Selbstvernichtung
Dieser »Durst«, diese Gier, diese Sucht, dieses Begehren, zeigt sich in verschiedener Art und ist der Grund für die Entstehung von dukkha und die Fortdauer der Wesen.
»Durst« ist aber nicht die erste oder einzige Ursache: Nach buddhistischer Philosophie ist alles bedingt, voneinander abhängig und eine erste oder einzige Ursache deshalb nicht möglich.
»Durst« ist aber die natürlichste Ursache für dukkha. Jedoch entsteht »Durst« nicht von selbst, sondern ist abhängig vom Gefühl.
Und Gefühl ist abhängig von der Berührung der Sinnesorgane mit den Objekten der äußeren Welt – und so geht der Kreislauf weiter, den man »bedingte Entstehung« nennt. Die Lehre der bedingten Entstehung wird hier näher erklärt: Die Lehre vom Nicht-Ich.
»Durst« entsteht durch die Illusion eines »Selbst«, die falsche Vorstellung eines »Ich«, die aus Unwissenheit entsteht.
»Durst« ist hier nicht nur begehren und hängen an Vergnügen, Macht und Reichtum; der Begriff steht auch für hängen an Ansichten, Glaubensvorstellungen, Idealen, Meinungen, Vorstellungen, Lehren und Begriffen.
Buddha kam zu dem Ergebnis: Alle Streitereien und Kriege in der Welt entstehen aus diesem selbstsüchtigen »Durst«. Dabei ist es egal, ob es um kleine Streitereien in der Familie geht oder um große Kriege zwischen Ländern oder Nationen.
Es ist zwar leicht zu verstehen: alles Übel entsteht durch egoistisches, selbstsüchtiges Begehren. Aber wie kann dieser »Durst«, dieses Begehren, neues Dasein und Wiedergeburt erzeugen?
Das ist nicht so leicht zu begreifen, und du musst erst eine Vorstellung von der Lehre von Karma und Wiedergeburt bekommen.
Vier Bedingungen des Daseins
Damit das Dasein und die Wesen fortdauern können, sind vier Nahrungsquellen im Sinne von »Bedingung« für das Dasein nötig:
1. Essen und Trinken
2. Kontakt der Sinnesorgane – einschließlich Geist – mit der Außenwelt
3. Bewusstsein
4. geistiges Wollen oder Wille
»Geistiges Wollen« ist der Wille zu leben, fortzudauern, immer da zu sein, mehr und mehr zu werden. »Geistiges Wollen« ist die Wurzel der Fortdauer und des Daseins; sie drängt voran durch gute und böse Taten.
Erinnerst du dich? Buddha sagte: »Wollen« ist Karma. Erst nachdem man gewollt hat, handelt man durch Worte und Taten.
Die Nahrung für »Geistiges Wollen« sind die bereits oben genannten drei Formen des »Durstes«:
1. Durst nach den Lüsten der Sinne
2. Durst nach Dasein und Werden
3. Durst nach Nicht-Dasein, Selbstvernichtung
Mit den Worten »Durst«, »Wille«, »geistiges Wollen« und Karma wird daher immer das gleiche bezeichnet, nämlich: das Begehren, das Verlangen, der Wille zu sein, zu leben, wieder aufs neue zu leben, immer mehr und mehr zu werden, zu wachsen und anzuhäufen.
Dies ist die wahre Ursache für die Entstehung von dukkha. Sie ist tief verwurzelt in den Geistformationen, der vierten Gruppe der fünf Daseinsgruppen, aus denen ein Lebewesen besteht.
Ursache von dukkha
Einer der wichtigsten Punkte in Buddhas Lehre ist, zu erkennen und zu verstehen: dukkha entsteht in dukkha selbst und nicht außerhalb.
Die Vernichtung, die Erlösung von dukkha liegt ebenfalls in dukkha selbst und nicht außerhalb.
Natur von Entstehen und Vergehen
Dazu findet sich in den ursprünglichen Pali-Texten folgende Formulierung: »Was auch immer die Natur des Entstehens hat, hat auch die Natur des Vergehens.«
Dukkha (die fünf Daseinsgruppen) hat also in sich selbst den Ursprung, den Samen, die Anlage zu seiner eigenen Entstehung und Vernichtung.
Karma-Lehre und Wiedergeburt
Das Wort »Karma« wird oft falsch verstanden und ausgelegt. Es heißt wörtlich zwar »Handeln«, »Tun«, hat jedoch in der buddhistischen Karma-Lehre eine besondere Bedeutung: »Willenshandlung«.
Damit ist aber nicht das Ergebnis von Karma gemeint. Im Buddhismus wird streng zwischen Karma und der Wirkung von Karma unterschieden, die »Ergebnis« oder »Frucht« von Karma genannt wird.
Die Karma-Lehre ist die Lehre von Ursache und Wirkung.
»Wollen« ist Karma. Gutes Karma hat gute Ergebnisse und schlechtes Karma hat schlechte Ergebnisse.
Aber ob gutes oder schlechtes Karma: Das Ergebnis oder die Wirkung von Karma, hat die Kraft, in guter oder schlechter Richtung fortzudauern und weiterzuwirken innerhalb des Kreislaufes der Wiedergeburtsdauer (samsara).
Für einen Heiligen aber gibt es keine Wiedergeburt oder ansammeln von Karma. Der Heilige ist erlöst von der Illusion, der falschen Vorstellung eines »Ich« oder »Selbst«, frei vom »Durst« nach Werden, Fortdauer und frei von allen Unreinheiten.
Aber wie kann die Wirkung oder das Ergebnis einer Willenshandlung fortdauern oder sogar in einem Leben nach dem Tod bestehen? Dafür muss erst geklärt werden, was im Buddhismus der Tod ist.
Was ist der Tod?
Wie du bereits weißt, ist ein Lebewesen nur eine Verbindung von körperlichen und geistigen Kräften oder Energien.
Beim Tod hören alle Tätigkeiten des physischen Körpers auf – aber hören die körperlichen und geistigen Kräfte oder Energien ebenfalls beim Tod des physischen Körpers auf?
»Nein«, sagt der Buddhismus. Die Gier, das Verlangen, der Wille, der »Durst» nach Fortdauer und Dasein ist die größte Kraft, die stärkste Energie in der Welt.
Diese Kraft oder Energie hört nach buddhistischer Lehre mit dem Tod des physischen Körpers nicht auf, sondern zeigt sich in einer anderen Form und erzeugt neues Dasein, was Wiedergeburt genannt wird.
Was ist Wiedergeburt?
Jetzt fragst du dich natürlich: »Was wird denn da wiedergeboren oder erzeugt neues Dasein, wenn es keinen ewigen unveränderlichen Kern, keine unsterbliche Seele, kein »Ich« gibt?«
Gut, dann lass uns zuerst klären, was das Leben ist.
Wie schon erwähnt ist das Leben nur eine Verbindung von körperlichen und geistigen Kräften oder Energien, die in fünf Daseinsgruppen eingeteilt sind.
Diese fünf Gruppen ändern sich ständig und sind in keinen zwei Augenblicken gleich. Diese fünf Gruppen sterben und werden wiedergeboren in jeder Sekunde. So bist du bereits im Leben ständig dem Tod unterworfen und trotzdem dauerst du fort.
Wenn du verstehen kannst, dass du in diesem Leben ohne einen unveränderlichen Kern, einer Seele, Selbst oder »Ich« bestehen und fortdauern kannst, warum sollte es dann unfassbar sein, dass diese Kräfte, auch nach dem Tod des physischen Körpers, ohne eine Seele, Selbst oder »Ich« fortdauern können?
Mit dem Tod des physischen Körpers sterben die Kräfte nicht; sie dauern fort in einer anderen Form, die wir ein anderes Leben nennen.
Da du schon weißt, dass es keine dauernde, unveränderliche Substanz gibt, kann natürlich auch nichts von einem Leben einfach zum anderen Leben übergehen. Es ist eine Reihe, die sich zwar ständig ändert, aber ununterbrochen fortdauert und in Wirklichkeit nichts als Bewegung ist.
Wie die Flamme einer Kerze: Es ist nicht immer die gleiche Flamme, aber es ist auch keine andere Flamme.
Oder wie ein Kind, das sich zu einem Erwachsenen entwickelt: Es ist als Erwachsener nicht mehr das Kind von früher, aber es ist auch kein anderer Mensch. Es ist nur die Fortdauer der selben Reihe.
Der Kreislauf der Wiedergeburt besteht, solange der »Durst« nach Dasein und Fortdauer besteht.
Wenn jedoch durch Weisheit die Wirklichkeit, die Wahrheit, das Nirvana erkannt wird, dann stirbt auch der »Durst«, die treibende Kraft von Dasein und Wiedergeburt.
Lies bitte hier weiter: Die »Dritte Edle Wahrheit«